4 Wirtschaftliche und politische Hintergründe
Jan Kuhlmann
Zuerst einmal klären wir, welche Bedeutung das Thema "Gesundheitspolitik" bei der eGK überhaupt hat. Wenn es keine andere plausible Möglichkeit gäbe, Menschen gesund zu machen, als mit der eGK, wäre Politik nicht weiter interessant für das Thema. Ist sie aber. Um dann die politischen Dimensionen der eGK zu verstehen, untersuchen wir nacheinander die Interessengruppen, die durch das Projekt gewinnen oder verlieren werden, die daher die Entwicklung des Projekts bestimmen.
Die Vorgeschichte
Warum ist Gesundheitspolitik bei dem Thema überhaupt relevant?
Die Technologie intelligenter Chipkarten wurde in den 70er Jahren
entwickelt. Damals wurde ihnen eine große Zukunft vorausgesagt1, unter
anderem von der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD),
einer damaligen staatlichen Großforschungseinrichtung2,?ermöglicht die
Technologie doch, dass jemand einen Computer im Scheckkartenformat immer
dabei hat. Damit könnten vor allem Ressourcen personenbezogen dynamisch
verwaltet werden, (zum Beispiel Rechte zu Fahrten mit öffentlichen
Verkehrsmitteln, Parkhausbesuche, Arbeitszeiten oder eben auch
Arztbesuche), und es könnten personenbezogene Daten direkt an ihrem
Aufenthaltsort abgerufen werden. Im Jahrzehnt von 1978 bis 1988, zur
Zeit der Planung und gesetzlichen Einführung der jetzigen
Krankenversicherten-Chipkarte, hatte niemand mit der mittlerweile
stattgefundenen Entwicklung der Datennetze gerechnet. Es war die Zeit
der Modems und Akustikkoppler. Da schien es sensationell, Daten "an der
Person" sofort greifbar zu haben, deren Übertragung undenkbar war. So
war damals die Vision, entsprechend wurde investiert. Siemens & Co.
haben in die Technologie intelligenter Chipkarten viele Millionen
gesteckt und besitzen Schlüsselpatente dafür. Es fehlt allerdings noch
der richtig große Markt. Wenn die medizinische Chipkarte ein Welterfolg
wird, könnten deutsche Firmen sich eine goldene Nase verdienen. Wenn.
Der erste Schritt dazu war bereits die Einführung der jetzigen
Krankenversichertenkarte (KVK), geplant 1988, umgesetzt bis 1995. Sie
ist bereits eine Chipkarte. Für ihre Befürworter und Hersteller, wie
Siemens, sollte schon sie der Einstieg in eine neue Welt sein, in der
Wahltarife, Routineuntersuchungen, Zusatzleistungen, Befunde und
Gesundheitsrisiken auf der Karte festgehalten werden. Die Krankenkassen
waren damals begeistert davon, gründeten und finanzierten zur
Unterstützung eine "Projektgruppe Krankenversichertenkarte", die
umfangreiche Vorstudien erstellte. Der Datenschutz sorgte 1993 dafür,
dass die Erweiterbarkeit der Lesegeräte in den Arztpraxen auf das
reduziert wurde3, was damals im Gesetz stand: maschinenlesbare Schlüssel
für Abrechnungsdaten bereitzustellen. Mehr sollten diese Geräte aus
Datenschutzgründen nicht können. Schon die Ausgabe der jetzigen KVK hat
Hunderte Millionen gekostet und der IT-Industrie gute Geschäfte
beschert. Gerechtfertigt wurde das mit späteren, nur durch sie möglichen
Kosteneinsparungen4. Es hat seit 1995 keine Untersuchung gegeben, ob
die KVK zur Kostenreduzierung beigetragen hat. Nach Ausgabe der Karte
wurden bis heute keine Fragen gestellt. Obwohl eine solche Untersuchung
lehrreich sein müsste, wenn Kosten/Nutzen-Überlegungen bei einem solchen
Projekt wichtig wären.
Durch Internet und Breitband-Verkabelung können schon jetzt über das
Netz weitaus mehr Informationen über eine Person dort bereitgestellt
werden, wo man sie haben will, (als auf die größten Chipkarten passen).
Nach dem Ausbau des flächendeckenden Breitbandnetzes5 wird das Standard
sein. Daher ist das Projekt umgestellt worden: Die eGK soll nicht mehr
in erster Linie Transportmittel für Daten sein. Aber wozu dann eine
intelligente Chipkarte?
Es wird nach Meinung der Befürworter ein Mittel benötigt, um den
Patienten an Ort und Stelle zweifelsfrei zu identifizieren und einen
maschinenlesbaren Schlüssel bereitzustellen. Die Identifikation dient
dazu, festzustellen, dass die Person, die einen Schlüssel vorzeigt, auch
die Person ist, der der Schlüssel gehört. Den Schlüssel, wie etwa die
Versichertennummer, brauchen Datenverarbeiter, um Informationen
zuzuordnen. Alles andere – auch die Verwaltung der Zugriffsrechte auf
die Informationen – kann sinnvoller im Netz gespeichert werden. Das muss
es auch, denn die Karte kann verloren gehen. Die Karte dient nun noch
zur Verwaltung der Zugriffsrechte auf Informationen.
Vorstellbar sind zwei grundlegende Alternativen zur eGK und zur dazu
gehörigen Telematikinfrastruktur. Erstens, eine technische Vernetzung
der Dienstleister im Gesundheitswesen, mit der der Patient überhaupt
nichts zu tun hat. Beispiel: Mein Arzt fragt mich, "kann ich beim
Krankenhaus Ihr Röntgenbild abfordern?" Ich erlaube es ihm, und das
Krankenhaus schickt ihm das Bild über ein Netz, zu dem nur Mediziner
Zugang haben. Für so ein System wird keine Patientenchipkarte gebraucht.
So ist es international die Regel, und auch national innerhalb von
Medizinkonzernen wie Äskulap oder Rhön-Klinikum üblich. Weitere
Alternative: ich lasse mein Röntgenbild, und alles, was ich sonst noch
speichern will, auf meinen USB Stick kopieren und sammle es zu Hause auf
meinem PC. Wenn mein Arzt davon etwas wissen will, bringe ich es ihm
mit. Großer Vor- und Nachteil dieser Alternativen: nur der Patient weiß,
wo es Informationen gibt, es sei denn, er sagt es dem Arzt seines
Vertrauens. Hat er es vorher vergessen, sind sie weg. Will er sie ihm
nicht verraten, weiß es sonst niemand.
Beide Alternativen haben einen weiteren großen Nachteil, für gewisse Unternehmen. Sie kommen ohne Chipkarten aus.
Health Station – Foto: juhansonin
http://www.flickr.com/photos/juhansonin/457115581/sizes/o/
IT-Industrie und ihre Interessen
Kosten-Nutzen-Aspekte
Die eGK ist mindestens ebenso ein industriepolitisches wie ein
gesundheitspolitisches Projekt. Nach dem Gesetz (SGB V) hätte sie
spätestens am 1.1.2006 eingeführt werden müssen. Wenn sie dringend
gebraucht würde von jemandem, müssen diese sich in den letzten Jahren
öffentlich beschwert haben, dass die Einführung sich verzögerte. Massiv
öffentlich beschwert haben sich weder Patienten- noch Ärzte-,
Krankenhaus- oder Apothekenvertreter. Die privaten Krankenkassen machen
bei der eGK nicht mit. Den am besten verdienenden 15 % der Bürger bleibt
die Karte erspart. Das wäre sicher anders, wenn die Überzeugung weit
verbreitet wäre, die Karte brächte den Patienten Vorteile. Dann hätte
sich die private Versicherung längst an die Spitze gestellt. Selbst die
gesetzlichen Krankenkassen, die zu den eifrigsten Verfechtern der eGK
gehören, verhielten sich relativ ruhig.
Heftig beschwert hat sich die IT-Industrie. Der Industrieverband
BITKOM6 argumentierte, seine Mitglieder hätten erhebliche Beträge in das
Projekt gesteckt, könnten deshalb jetzt auch erwarten, dass es umgehend
umgesetzt würde. Das ist vollständig richtig und plausibel, wenn man
die eGK als Versuch versteht, eine Technologie, bei der sich Deutschland
führend sieht, durch ihre flächendeckende Einführung voranzubringen.
Das Projekt wird jedoch aus Krankenkassenbeiträgen finanziert.
Health Prototype Candidates – Foto: juhansonin
http://www.flickr.com/photos/juhansonin/3093096757/
Mindestens zwei Milliarden Euro soll es offiziell kosten. Selbst unter
günstigsten Bedingungen rentiert die Karte sich erst nach frühestens
fünf Jahren. Zu diesem Ergebnis kamen nicht Kritiker, sondern die
Unternehmensberatung Booz, Allen, Hamilton, die im Auftrag der Gematik
GmbH eine Kosten-Nutzen-Analyse der eGK angefertigt hat. Die Gematik ist
für die Einführung der eGK geschaffen worden und steht unter Aufsicht
des Gesundheitsministeriums. Nach Ansicht der Studie rentiert sich die
eGK vermutlich erst nach zehn Jahren. Die Studie wurde von der Gematik
nie veröffentlicht, doch dem Chaos Computer Club ist sie zugespielt
worden. Sie ist auf deren Internetseiten abrufbar7. Man weiß inzwischen,
was von den ersten Kostenschätzungen bei IT-Großprojekten zu halten
ist. Derzeit ist von bis zu zehn Milliarden Euro die Rede, also doppelt
so viel Geld wie in der pessimistischen Schätzung damals. Es gibt
bislang nur in Randbereichen international eine Nachfrage nach
intelligenten Chipkarten in der Medizin. Ohne gesetzliche
Benutzungspflicht hätte diese Technologie nicht annähernd eine Chance
selbst auf die Millionen-Stückzahlen zu kommen. Der Gematik dürfte klar
sein, dass nach dem Rollout genauso wenig nach der Rentabilität gefragt
werden wird, wie das nach dem Rollout der heutigen KVK der Fall war.
‚Augen zu und durch' heißt wohl auch hier die Devise!
Ein erster Schritt zum Verständnis der eGK ist, dass zwei Milliarden
Euro Versicherungsbeiträge, die ansonsten ihren Weg zu Ärzten,
Krankenschwestern, Apotheken und Pharmafirmen finden würden, erst mal an
IT-Unternehmen und ihre Beschäftigten gehen sollen. Eine
Beitragserhöhung zur Finanzierung der eGK ist nicht geplant. Man wird
das Geld bei den Behandlungen einsparen, nicht durch die Karte selbst
(das kommt ja frühestens nach 5 Jahren), sondern zunächst durch die
üblichen gesetzlichen Einschränkungen.
Krankenkassen-Interessen
Bisher sind die Krankenkassen in unserem Gesundheitssystem kaum mehr
als Zahlstellen. Sie ziehen bei den Arbeitgebern die Beiträge ein und
überweisen sie entsprechend der Abrechnungen an die Krankenhäuser und
Ärzteverbände. Inhaltlichen Einfluss auf die Behandlungen haben die
Kassen wenig, auch nicht darauf, wer ihre Patienten behandeln darf und
wer nicht. Diese Ohnmacht der Krankenkassen ist ein großer Erfolg der
Ärzteorganisation "Hartmannbund", erzielt gegen Ende des 19.
Jahrhunderts. Im Windschatten haben auch die Apotheker ein komfortables
Plätzchen erreicht: Es gibt in Deutschland im internationalen Vergleich
die höchste Apothekendichte.
Das eGK-Projekt ist Teil einer über die Jahrzehnte gewachsenen
Struktur im deutschen Gesundheitswesen, der Verbandsmacht. In
Krankenkassen und Ärzteverbänden arbeiten Zehntausende Menschen,
darunter viele gut bezahlte Funktionäre, die alle sehr wichtig sind, als
Hüter und Organisatoren der Volksgesundheit. Dazu kommen ein paar
Hundert Wissenschaftler sowie viele Tausend IT-Mitarbeiter.
Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Apotheken-Rechenzentren
verbrauchen jährlich Hunderte Millionen Euro, darunter einige Dutzend
Millionen für Informationstechnik. Ihr Selbsterhaltungstrieb braucht
neue Projekte, um sich zu rechtfertigen, gerade in unserer Zeit, wo der
Gesundheitsaufwand durch die älter werdende Bevölkerung steigt, aber die
Beiträge konstant bleiben sollen. Dass aus Sorge um preiswerte
Gesundheit der Massen ständig neue IT-Projekte durchgezogen werden, wird
von ihren Befürwortern völlig ehrlich als dringend angesehen. Wer kommt
sich schon selber überflüssig vor. Mehr Geld für IT, um mit weniger
Geld mehr Gesundheit zu produzieren, das ist die magische Idee, die
hinter der eGK steckt.
Die Verbandsmacht führt dazu, dass Ärzte über immer neue Nachweise
fluchen, die sie liefern müssen, während die Patienten im Unklaren
darüber gelassen werden, warum sie heute so behandelt werden und dies
bezahlen müssen, morgen wieder anders, warum ihnen der Arzt neuerdings
Mittelchen empfiehlt, die sie selber bezahlen müssen, heute dies
Medikament verschreibt, morgen ein neues.
Dass bei uns die Ärzte von den Krankenkassen bezahlt werden und nicht
von den Patienten selbst, wird neuerdings von einigen
wirtschaftsorientierten Politikern unterstützt. Fachleute, die aus den
USA nach Deutschland kommen, arbeiten hier für weniger Geld wegen
niedrigerer Gesundheitskosten. Das ist ein Vorteil im internationalen
Wettbewerb. Zentralisierung der Nachfrage bei den Krankenkassen hat die
Marktmacht gegenüber den Ärzten verstärkt. Sie half, deren Preise zu
drücken, sodass die Behandlungen hier billiger sind. Nach Meinung
führender Gesundheitsökonomen, wie Lauterbach, schlummern aber noch
erhebliche Reserven. Schließlich verdient bei uns ein Arzt
durchschnittlich mehr als doppelt so viel wie ein Lehrer, in anderen
Ländern mit vergleichbarer Lebenserwartung ist das anders. Die Politik
will die Krankenkassen mehr tun lassen als jetzt und die Ärzte in
mehrere, gegenseitig sich unterbietende Gruppen aufspalten, z. B. in
Hausärzte und Fachärzte. Sie will die Konkurrenz der Krankenhäuser
ausnutzen während die Krankenkassen als einheitlicher Nachfrageblock
auftreten so wie bei den Gesundheitsfonds. So könnte man, das ist die
große Hoffnung, bei einigermaßen erträglicher Qualität die
Gesundheitskosten stabil halten Zulasten der im Gesundheitswesen
Arbeitenden trotz alternder Bevölkerung und immer mehr Medizin.
Aus Sicht der Kassen ist es dabei ein großer Nachteil, dass alle
PatientInnen unter allen Ärzten und Krankenhäusern wählen können. So
werden die Behandlungskosten nicht gesenkt, weil man Anbieter nicht
gegeneinander ausspielen kann. Die Möglichkeit der Krankenkassen, solche
Sonderverträge zu vereinbaren, steht schon im Gesetz.
Dazu wird ein Medium gebraucht, mit dem unterschiedliche Tarife der
gesetzlich versicherten Patienten in der Arztpraxis sofort und sicher
festgestellt werden, sodass jemand, der nicht den richtigen Tarif hat,
schon am Empfangstresen der Arztpraxis um Barzahlung gebeten oder nach
Hause geschickt wird. Und das schien mit der eGK gefunden.
The Process and Benefits – Foto: Korean Resource Center
http://www.flickr.com/photos/krcla/3227536917/in/set-72157612994913926/
Hausarztmodell
Erstes Anwendungsfeld ist das Hausarztmodell, das gleichzeitig mit der
eGK kommen soll, dieses ist schon im Gesetz geregelt8. Es handelt sich
um ein Angebot der Krankenkassen an die Versicherten, vereinbart mit
einer Gruppe von Hausärzten.
Wenn die Patienten bereit sind, nur nach Verordnung durch "ihren" am
Programm teilnehmenden Hausarzt zum Facharzt zu gehen, kriegen sie einen
günstigeren Beitragssatz. Diesen Hausarzt müssen sie für längere Zeit
festlegen. Das wird entweder auf der Karte vermerkt oder, nach dem
Einloggen, dem Arzt vom Zentralcomputer zurückgemeldet, sodass andere
Hausärzte, oder Fachärzte, zu denen die Patienten ohne Überweisung
gehen, rotes Licht bekommen, sie nach Hause schicken oder nur gegen Cash
behandeln dürfen.
Die an diesem Verfahren teilnehmenden Hausärzte kriegen dafür mehr
Geld als vorher, denn wenn niemand ohne ihre Erlaubnis zum Facharzt
kann, wird unterm Strich so viel gespart, dass sie und die Patienten
daraus einen Bonus erhalten können und noch Geld bei der Kasse hängen
bleibt. Zu den Bedingungen, unter denen ein Hausarzt mitmachen darf,
gehört natürlich, dass er nicht alle Wünsche der Patienten erfüllt.
Darüber wachen die Krankenkassen, die so zusätzliche Aufgaben und mehr
Geld für ihre Verwaltung bekommen und endlich aus ihrem
Dornröschenschlaf als Zahlstelle aufwachen dürfen.
Selbstverständlich wären solche Modelle auch mit anderen Medien
umsetzbar, z.?B. mit dem Bundespersonalausweis. Aber man hat sich bei
den Kassen auf die eGK konzentriert, eine Änderung würde ihre Projekte
verzögern. Die Utopien der Krankenkassen haben sich mit der eGK
verbunden, deshalb muss aus Sicht der Kassen die eGK irgendwann kommen.
Baden-Württemberg ist das erste Bundesland, in dem das Hausarztmodell
eingeführt wurde. Dort müssen die Hausärzte erheblich mehr Informationen
über ihre Behandlungen an die Krankenkassen liefern als bisher. Sie
sind verpflichtet, sich hinsichtlich ihrer Behandlungen umfangreich
beraten zu lassen und können aus dem Modell gefeuert werden, wenn sie
die Qualitäts-Vorgaben nicht einhalten. Wegen dieser Datenflüsse, die
über den jetzigen Stand bei der KVK weit hinausgehen, hat der
Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, Ärzte und
Patienten zum Boykott des Hausarztmodells aufgerufen9.
Die IT-Vernetzung bei diesem Hausarztmodell übernahm übrigens die
Firma InterComponentWare, deren Hauptinvestor Dietmar Hopp heißt. Sie
hat dafür eigene Chipkarten ausgegeben.
Ärzte-Interessen
Die Standesorganisation "Freie Ärzteschaft" läuft genau wegen des
Hausarztmodells Sturm gegen die eGK, denn man hatte sich doch eigentlich
das Gegenteil davon versprochen, nämlich den Versicherten mit
Zuwahl-Tarif, auch auf der Karte vermerkt, der einige Prozente mehr an
die Kasse zahlt und die Kasse an den Arzt. Stattdessen macht die Politik
es jetzt umgekehrt! Bei den Ärzten ist längst angekommen, dass sich das
Projekt gegen sie richtet. Daher ist die Mehrheit der Ärzteschaft
kritisch eingestellt, sichtbar an massiven Protest-Resolutionen auf
Ärztetagen. Man kann zwei Gruppierungen unterscheiden.
Eine Gruppierung trägt das Bündnis "Stoppt die e-card" und hat in den
Wartezimmern schon Hunderttausende Unterschriften gegen die Karte
gesammelt. Die Ablehnungsfront setzt sich zusammen aus sozial
engagierten Ärzten, zum Beispiel der IPPNW (Ärzte zur Verhinderung eines
Atomkriegs), Anthroposophen, Naturheilkundlern, kurz: Die traditionell
linke Fraktion unter den Ärzten ist prinzipiell gegen die eGK. Dagegen
ist aber auch die besonders rabiate Standesvertretung "Freie
Ärzteschaft", die mit allen Patienten privat abrechnen will und damit
die Axt an die Wurzel des deutschen Sozialversicherungs-Systems zu legen
versucht. Beide Richtungen arbeiten in dem Bündnis "Stoppt die
e-Card!"10einträchtig zusammen und haben in mehreren Bundesländern, z.
B. in Hamburg, unter den Ärzten die Mehrheit.
Die bundesweite, traditionalistische Mehrheit des Standes verfolgt
eine andere Politik. Ihre Vertreter halten es für unpraktisch, gegen die
eGK zu sein, vor allem weil mit SPD, CDU und Grünen alle möglichen
Regierungsmehrheiten dafür sind. Die eGK steht schon im Gesetz, sie
ließe sich deshalb nicht mehr verhindern, so die Argumentation. Daher
ist ihre Politik: Befürwortung als Parole, aber zähe, hinhaltende
Sabotage im Detail. Diese Gruppe verweist gegenüber Politikern gerne auf
die erste Gruppe, um klarzumachen: Nur wenn man ihre Bedenken ernst
nimmt, hat die eGK bei den Ärzten auch nur den Hauch einer Chance.
Allerdings wäre die eGK mit Software-Updates erweiterbar, und das,
ohne dass die Ärzte nach der Einführung noch einen publikumswirksamen
Hebel zur Verhinderung in der Hand hätten. Wer demonstriert schon gegen
ein Software-Update?
Hauptforderung der traditionalistischen Ärztefraktion war, dass die
Umstellungskosten für die neue Technik alleine von den Krankenkassen
getragen werden. Das ist verständlich, denn sie haben nichts von der
Umstellung. Juristisch ist es aber nicht nachvollziehbar, denn Ärzte
sind Selbstständige. Autozulieferer müssen die technischen
Voraussetzungen, um mit VW oder Mercedes abzurechnen, auch selber
bezahlen, obwohl die Technik nur den Herstellern nützt. Ihr Vorteil ist,
dass sie überhaupt Aufträge bekommen, dafür müssen sie eben den Aufwand
bringen. Diesen Vorteil, dass sie überhaupt behandeln "dürfen", haben
die Ärzte noch nicht verstanden, daher ihre Forderung: Die eGK soll
Abrechnungs-Modelle ermöglichen, die genau dieses Verständnis bei den
Ärzten herstellen: "Ich darf froh sein, Versicherte behandeln zu dürfen,
dafür bringe ich, was die Kasse verlangt". Verständlich, dass die Ärzte
sich sträubten. Sie haben es bisher besser. Sie sträubten sich übrigens
mit Erfolg! Eine der letzten Aktionen von Gesundheitsministerin Schmidt
war eine Änderung des SGB V, wonach die Krankenkassen den Ärzten ihre
gesamten Umstellungskosten und den Mehraufwand der eGK ersetzen müssen.
Die Subventionen waren so lukrativ, dass danach die Ablehnungsfront der
Ärzte gegen die eGK in Nordrhein-Westfalen weitgehend zusammengebrochen
ist. Dort haben mittlerweile über 70 % der Arztpraxen eGK-Lesegeräte,
vorher waren es nur 10 %.
Die Ärzte-Hardliner kritisieren jetzt, dass die Mehrheit der Ärzte
Monetik vor Ethik setze, dass sie zugunsten kurzfristiger Vorteile ihre
eigenen, strategischen finanziellen Interessen vernachlässige. Dr.
Hermann Hartmann, vor 110 Jahren Begründer erfolgreicher ärztlicher
Standespolitik, hat mit solchen Appellen seinerzeit viel
Opferbereitschaft der Ärzte und in der Folge gute finanzielle
Bedingungen erreicht. Ob diese Erfolgsgeschichte wiederholbar ist,
erscheint mir fraglich. Das ärztliche Standesbewusstsein ist nicht mehr,
was es einmal war. Für ein paar Euro mehr haben sich genug Hausärzte
von den Kassen kaufen lassen, für ein paar Euro mehr stellt man sich das
Lesegerät in die Praxis und erduldet die Zeiten vor dem Terminal.
Kassenärztliche Vereinigungen (KVen)
Sämtliche Ärzte, die an der Versorgung der Kassenpatienten teilnehmen,
sind jeweils in einer Kassenärztlichen Vereinigung für das
entsprechende Bundesland organisiert. Die Krankenkassen rechneten die
ärztlichen Leistungen vor Einführung des Hausarztmodells nur mit dieser
Organisation ab. Sie spielt bei der Einführung der eGK eine
Schlüsselrolle, weil die Ärzte bisher mit den KVen elektronisch
kommuniziert haben. Von dort werden die Standards für die Praxis-EDV der
Ärztinnen und Ärzte erlassen.
Auch bei den KVen haben mit der Zeit bürokratische Eigeninteressen ein
immer größeres Gewicht bekommen, sind doch bei jeder KV mittlerweile
Hunderte Mitarbeiter beschäftigt. Es gibt dort auch Vorstandsposten mit
Managergehältern und somit große Selbsterhaltungsinteressen. Die KVen
stehen jetzt von zwei Seiten unter Beschuss. Vonseiten der Krankenkassen
durch das Hausarztmodell und weitere geplante Modelle ähnlicher Art.
Und von den radikalen Standespolitikern der Freien Ärzteschaft, weil sie
die Abschaffung des Sachleistungsprinzips, die Direktabrechnung mit den
Patienten und Krankenkassen, somit die Abschaffung der KVen fordern.
Die Reaktion der KVen ist verständlich: Sie verbünden sich mit
Krankenkassen und IT-Industrie, als die unentbehrlichen
Abrechnungsdienstleister.
Bisher gibt es noch keine Initiative kritischer Ärzte, ihre eigenen
Vertreter in die KV-Gremien zu wählen. Aber das dürfte sich
mittelfristig ändern. Wenn das passiert, könnte eine von der Branche
selbst gesteuerte Gesundheits-Telematik vielleicht doch noch eine Chance
bekommen.
Freiheit statt Angst Berlin 2008
http://www.flickr.com/photos/freiheit_statt_angst_berlin_2008/2993692928/
Apotheken und Pharma-Industrie
Deutschland ist Sitz einiger weltweit bedeutender Pharma-Unternehmen,
wie Bayer, Boehringer, Merck sowie Hoechst (inzwischen Teil von
Sanofi-Aventis). Ebenso wie die Autoindustrie steht Pharma traditionell
unter dem besonderen Schutz der Politik. In Deutschland werden, im
internationalen Vergleich, besonders viele besonders teure Arzneimittel
verschrieben, deutlich mehr als international üblich. Traditionell
kämpfen CDU und FDP dafür, dass dies so bleibt.
Ein Erfolg in dieser Richtung ist die eGK. Bisher werden nämlich etwa
10 % der Rezepte, die die Ärzte ausstellen, von den Patienten einfach
nicht eingelöst und weggeworfen. Apotheken und Pharmafirmen entgehen so
erhebliche Umsätze. Die Einzigen, die dies Verhalten der Patienten
feststellen können, sind derzeit die Krankenkassen. Die haben aber
keinerlei Interesse daran, die Patienten zur Einlösung der Rezepte
anzuhalten.
Jetzt sollen die Rezepte und ihre Einlösung in der Apotheke in der
Telematikinfrastruktur gespeichert werden. Laut Spezifikation der eGK
werden Verschreibungen erst nach ihrer Einlösung gelöscht, und stehen
bis dahin Ärzten und Apotheken zur Einsicht offen. Damit kann der
behandelnde Arzt beim nächsten Besuch sehen, dass seine Verschreibung
nicht eingelöst wurde, und den Patienten zur Rede stellen. Der Apotheker
kann, wenn der Versicherte doch mal ein Medikament abholt, alle alten,
nicht abgeholten Verschreibungen sehen und fragen, ob der Versicherte
nicht auch diese Mittelchen jetzt kaufen möchte.
Das elektronische Rezept sorgt für zusätzliche Einnahmen der Apotheken
und Pharma-Unternehmen. Das führt aber nicht zur Erhöhung des
Kassenbeitrags. Vor allem auch nicht beim Arbeitgeberanteil. Fast alle
Medikamente müssen die Versicherten ja selbst bezahlen. Es zahlen also
nur Patienten freiwillig mehr.
Perspektiven aus Patientensicht
Was auf den ersten Blick erstaunen mag, ist das Schweigen der
Selbstverwaltung der Krankenkassen. Auf den Vertreterversammlungen der
Ärzte wird stundenlang über die eGK diskutiert, und für die Mitarbeit
der Ärzte werden Bedingungen gestellt, die kaum erfüllbar sind. Auch die
Krankenkassen haben Parlamente. Alle sechs Jahre wählen die
Versicherten die Selbstverwaltungen der Krankenkassen. Hat jemand im
Zusammenhang mit der eGK irgendetwas aus einer dieser Versammlungen
gehört?
Vermutlich nicht, denn dort sitzen teils Gewerkschafter, die
eigentlich die Interessen der Beschäftigen der Kasse vertreten.
Mehrheitlich sitzen dort aber Vereine, die mit klangvollen Namen wie
"Gemeinschaft der XYZ-Versicherten" erfolgreich die Sitzungsgelder von
50 EUR mit Beschlag belegen. Eigentlich eine lächerliche Summe, in
Anbetracht der Verantwortung, bei den großen Kassen vergleichbar mit
einem Aufsichtsratsjob bei SAP. Aber wenn man nichts tut, sind 50 EUR
wohl verdient. Es gibt im Internet von keinem Mitglied der
Selbstverwaltung der Kassen einen Rechenschaftsbericht über eingebrachte
Vorschläge oder Kritik.
Eine neue Idee könnte sein, eigene Listen für diese
Vertreterversammlungen aufzustellen, z. B. "Versichertenrechte und
Datenschutz", und für Transparenz und Datenschutz in den Krankenkassen
einzutreten. Denn die Gestaltungsfreiheit der Krankenkassen soll erhöht
werden. Das dürfte jedoch nur passieren, wenn auch die demokratische
Kontrolle verstärkt wird. Bisher ist die nur eine Farce.
Anmerkungen
- Siehe z. B. Titelgeschichte des "Spiegel" 47/1994, "Die Lunte brennt", http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13685356.html
- Die GMD wurde 2000 mit der Fraunhofer-Gesellschaft fusioniert. Das entsprechende Institut unter Bruno Struif setzt dort seine Aktivitäten fort. Siehe Einleitung.
- Technische Spezifikation der Arztausstattung- Lesegeräte, Stand 22.11.1993, Kassenärztliche Bundesvereinigung Hauptabteilung Informatik, Köln/
- Die Krankenversichertenkarte wurde eingeführt durch das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitsheitswesen vom 20.12.1988. In der amtlicher Begründung des Gesetzentwurfs, Bundesratsdrucksache 200/88 vom 29.4.1988, schätzte die Bundesregierung: durch die "Transparenz der Leistungsabrechnung", die durch die KVK und die damit eingeführte elektronische Abrechnung erreicht würde, würden 2,1 Milliarden DM pro Jahr im Bereich ambulante Behandlung eingespart (Seite 175, C.III.19.a.). http://dipbt.bundestag.de/doc/brd/1988/D200+88.pdf
- Pressemitteilung vom 18.02.2009 zur beschlossenen Breitband-Strategie der Bundesregierung: "Aigner: Breitband bald auch überall auf dem Land" http://www.bmelv.de/cln_154/SharedDocs/Pressemitteilungen/2009/030-AI-Breitbandstrategie.html
- BITKOM fordert 04.03.2009 schnellen Rollout der eGK "Mehrheit der Deutschen will Gesundheitskarte" http://www.bitkom.org/de/presse/62013_58052.aspx
- http://dasalte.ccc.de/crd/whistleblowerdocs/20060731-Gesundheitstelematik.pdf?language=de
- § 73 c Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V.)
- § 73 b SGB V.
- Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein fordert am 04.03.2010: Hausarztzentrierte Versorgung sofort stoppen https://www.datenschutzzentrum.de/presse/20100304-hausarztzentrierte-versorgung-stoppen.htm
- Breites Aktionsbündnis gegen die Elektronische Gesundheitskarte "Stoppt die e-Card!" http://www.stoppt-die-e-card.de/
Das FIfF unterstützt die weitere Verbreitung der in dieser Broschüre veröffentlichten Artikel. Aus diesem Grund nutzen die Autor_innen eine Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Lizenz (CC BY-SA) für ihre Inhalte.
Wenn nicht anders angegeben dürfen Sie:
Zu den folgenden Bedingungen:
- Artikel vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen
- Abwandlungen und Bearbeitungen der Artikel anfertigen
Eine vereinfachte Zusammenfassung der Lizenz finden Sie auf der Webseite von Creative Commons:
- Die Urheberrechtsinformationen müssen erhalten bleiben.
- Namensnennung – Sie müssen den Namen der Autor_innen und das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF) als Herausgeber nennen (aber nicht so, dass es so aussieht, als würde sie/es/er Sie oder Ihre Verwendung des Werks unterstützen).
- Weitergabe unter gleichen Bedingungen – Wenn Sie das lizenzierte Werk bzw. den lizenzierten Inhalt bearbeiten oder in anderer Weise erkennbar als Grundlage für eigenes Schaffen verwenden, dürfen Sie die daraufhin neu entstandenen Werke bzw. Inhalte nur unter Verwendung von Lizenzbedingungen weitergeben, die mit denen dieses Lizenzvertrages identisch oder vergleichbar sind. Im Falle einer Abwandlung ist es notwendig, dass Sie einen Hinweis darauf geben, dass es sich um eine Abwandlung handelt.
- Der Artikeltitel und die URL müssen angegeben werden (e.g. http://fiff.de/egk).
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/
Im Zweifel orientieren Sie sich bitte an dem rechtsverbindlichen Lizenzvertrag:
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode
Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
Spendenkonto-Nr: 800 927 929 Sparda Bank Hannover eG (BLZ: 250 905 00)
Mit Ihrer Unterstützung tragen Sie dazu bei, dass auch in Zukunft Artikel unter einer freien Lizenz veröffentlicht werden.