1 Einleitung
Jan Kuhlmann
Einführung
Seit 2004 kündigen Presse, Funk und Fernsehen regelmäßig jährlich an,
dass spätestens im kommenden Jahr eine neue, moderne medizinische
Chipkarte an alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung
ausgegeben wird. Das ist eigentlich kein Wunder, denn im
Sozialgesetzbuch ist der 1. Januar 20061 als spätester Starttermin der
so genannten "Elektronischen Gesundheitskarte" (eGK) vorgeschrieben. Sie
soll sich unterscheiden von der bereits bestehenden
Krankenversichertenkarte (KVK). Die KVK ist bereits eine Chipkarte, aber
keine intelligente, wie es die eGK sein soll. Von der KVK kann man in
der Arztpraxis nur lesen, aber man kann nichts drauf schreiben. Im März
2010, werden in der Pionierregion Nordrhein-Westfalen die ersten eGK
von einigen Krankenkassen an ihre Versicherten ausgegeben
(eGK-"Rollout")2. Einen Plan, wann die Karte an die meisten Deutschen
"ausgerollt" wird, gibt es bis Anfang 2010 nicht. Die derzeit manchmal
in Krankenkassenbüros verbreitete Version, die neue Karte sei endgültig
begraben worden, ist allerdings auch falsch.
Derzeit befinden wir uns in einer Zwischenphase. Das Projekt wird im
Gesundheitsministerium ausgewertet, und das weitere Vorgehen neu
festgelegt. Diese Broschüre ist ein Beitrag zu dieser Zwischenbilanz.
Ein Hinweis zum Sprachgebrauch: Die Befürworter der medizinischen
Chipkarte nennen sie "elektronische Gesundheitskarte", weil das mehr
Akzeptanz schafft als "medizinische Chipkarte". Es ist ähnlich wie bei
der Atomkraft, die amtlich Kernkraft heißt. Zu den Befürwortern der
neuen Karte gehört der Gesetzgeber, sodass "eGK" ihr amtlicher Name ist.
Ihre Gegner nennen dieselbe Karte "e-card", und ihr Bündnis heißt
"Stoppt die e-card"3. Wir benutzen in dieser Broschüre entweder
"medizinische Chipkarte" oder die offiziellen Propagandabezeichnungen:
"eGK" und "elektronische Gesundheitskarte". Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie lassen sich von keiner Bezeichnung beeinflussen, Sie gehören zur
denkenden Minderheit.
Wie die meisten Patienten, fände ich es schön, wenn man digitale
medizinische Dokumente schnell dort haben könnte, wo sie gebraucht
werden. Zum Beispiel habe ich mir in der Nähe von Plön, 60 km von zu
Hause, das Bein gebrochen und wurde dort operiert. Wie praktisch wäre
es, wenn mein Hamburger Orthopäde oder ich selbst die Röntgenbilder als
Grafikdatei mit einer verschlüsselten E-Mail aus Plön erhalten könnten.
Es könnte schon seit fünf Jahren selbstverständlich sein – wenn es nur
nicht so wenig kosten würde. Um das zu verstehen:
Kurze Geschichte der Versichertenkarten in der gesetzlichen Krankenversicherung
Kurze Chipkartengeschichte
Die Chipkarte wurde von dem Hamburger Jürgen Dethloff4 erfunden. Er
stellte sich 1968 vor, dass viele sich bald maschinenlesbar ausweisen
müssten. Er ließ sich dafür einen integrierten Speicher patentieren, in
eine Plastikkarte eingebaut, in dem ein "Identifikand", also eine
eindeutige Nummer zum Beispiel, fest verdrahtet ist und von einem
Lesegerät ausgelesen werden kann5. Vorbild Kreditkarte, nur mit einem
Chip, statt Hochprägung und Magnetstreifen. Von dieser Art ist die
Krankenversichertenkarte. 1977 setzte Dethloff noch eins drauf: die
Prozessorchipkarte, mit einem kleinen Computer im Chip, der überprüft,
ob der Zugreifende berechtigt ist, bevor er den Zugriff auf die in
seinem Inneren gespeicherten, änderbaren Informationen freigibt. Von
dieser Art war die damals geplante medizinische Chipkarte.
Mitte der 1990er Jahre hatten viele von uns schon mehr als fünf Karten
in ihrer Geldbörse. Es entstand die Idee der dritten Generation, der
"Multi-Card". Eine intelligente Chipkarte mit vielen Anwendungen
unterschiedlicher Anbieter darauf. Zumindest: eine normierte Karte, die
jeder hat, und die für viele Anwendungen benutzbar ist. Von dieser Art
ist der neue Personalausweis, der Plänen der Bundesregierung zufolge ab
2010 kommt, mit Chip, und der grundsätzlich auch für die
Krankenversicherung nutzbar wäre. Aber die Industrie verkauft, solange
es für jede neue Karte Geld gibt, lieber zwei oder zwanzig dumme oder
intelligente Chipkarten als nur eine.
Deutsche Firmen waren und sind in der Entwicklung von Chipkarten
führend und halten zusätzliche Patente. Bemerkenswert sind: die Siemens
AG, das Münchener Großunternehmen Giesecke & Devrient sowie die ORGA
GmbH – jetzt Sagem Orga. Sie waren beim Siegeszug elektronischer Karten
im Gesundheitswesen von Anfang an dabei und sind heute mit der eGK groß
im Geschäft. Von Anfang an weiterer sehr wichtiger Akteur ist die
Fraunhofer-Gesellschaft, eine staatlich finanzierte
Großforschungseinrichtung, die auch Chipkarten entwickelt, und in deren
Gremien die Industrie prominent vertreten ist und entsprechend lenken
kann. Für diese Technik wurden nun Anwendungen gesucht.
Kurze Geschichte der deutschen Gesundheitskarten
1989 wurde – in der Ära Helmut Kohl – das Gesundheitsreformgesetz6
erlassen, das vorsah, bis 1992 die bis dahin üblichen Krankenscheine
durch einen maschinenlesbaren Ausweis zu ersetzen. Zur Technik des
Ausweises steht nichts im Gesetz. Mittels der Karte werden die
Abrechnungsinformationen über Behandlungen und Diagnosen, die in der
Arztpraxis entstehen, den jeweiligen Patienten eindeutig zugeordnet. In
dieser Form werden sie meist online an die Kassenärztliche Vereinigung
weitergeleitet und von dort, teilweise anonymisiert, an die
Krankenkassen. Man sollte übrigens nicht unterschätzen, wie viele
medizinische Informationen über uns jetzt schon die Arztpraxis
verlassen. Diagnosen und Behandlungen verlassen schon heute als
personenbezogene Daten die Arztpraxen.
Krankenkassen und Ärzteverbände einigten sich 1989 zunächst auf eine
Magnetstreifenkarte. Sie könnte auch heute den im Gesetz vorgesehenen
Versicherten-Datensatz aufnehmen und kostet dabei weniger als halb so
viel wie eine Chipkarte. Wegen verbreiteter Proteste der Ärzte, denen
schon damals die ganze Richtung nicht gefiel, musste das Projekt 1990 –
92 eine Pause einlegen. In dieser Zeit gelang es der
Chipkartenindustrie, die Chipkarte als Lösung durchzusetzen7. Maßgebend
waren damals die Krankenkassen (in ihrem Auftrag das "Projektbüro
Krankenversichertenkarte" von Dr. Peter Debold) und die Siemens AG.
Beide argumentierten8, die Chipkarte sei, im Gegensatz zur
Magnetstreifenkarte, erweiterbar. Man könnte neue Anwendungen während
des Einsatzes laufend in die Karte aufnehmen. Dabei nannten sie einmal
Behandlungs- und Diagnosedaten wie Notfalldaten, elektronische
Krankenakten, Arztbriefe und Rezepte, zum anderen unterschiedliche
Tarife der Versicherten, unterschiedliche Zuzahlungsregelungen zum
Beispiel, wie sie schon damals von liberalen Kritikern der
Sozialversicherung gefordert wurden. Mit dieser Argumentation setzten
die Krankenkassen und Siemens die Chipkarte praktisch durch. Aus
Datenschutzgründen9 wurde die Nicht-Erweiterbarkeit technischer
Komponenten in der Hardware der Karten und Lesegeräte vorgeschrieben.
Mit diesem Kompromiss war die Technologie schnell durchsetzbar. Man
hätte zu diesem Zeitpunkt genauso gut zur Magnetkarte zurückkehren und
viele Millionen an Versicherungsbeiträgen sparen können. Große Visionen,
als Gründe, um eine Technologie einzuführen, haben für Anbieter ihre
Funktion erfüllt, wenn die Entscheidung für die Technologie getroffen
ist. Was später aus diesen Visionen wird, ist für die Anbieter nicht
mehr so wichtig, sie haben dann den Auftrag für insgesamt 80 Millionen
Karten und Zehntausende Lesegeräte. Mehr wollten Siemens, ORGA, Giesecke
& Devrient damals vielleicht gar nicht unbedingt erreichen. Danach
hatten die Visionen für die nächsten 10 Jahre ihre Schuldigkeit getan.
Diese Erkenntnis merken wir uns, denn aktuell könnte dasselbe noch mal
passieren.
Damals hatte die Chipkartenindustrie bereits eines erreicht:
"Datenübertragungen im Gesundheitswesen" und "Chipkarte" werden seither
in einem Atemzug genannt. Man steht als Ketzer und Technikverweigerer
da, wenn man 2010 noch höflich erwähnt, dass zur Übertragung von
Röntgenbildern eine Chipkarte nicht zwingend erforderlich ist.
Zwar gab es 1995 – 2005 etwa ein Dutzend Chipkartenprojekte bei
einzelnen Krankenkassen, sie wurden aber allesamt wegen zu geringer
Teilnehmerzahlen und mangels wirtschaftlichen Erfolgs eingestellt. Für
die, um deren geschäftliche Interessen es bei der Chipkarte geht, stellt
sich ein Problem, das sie "Henne-Ei-Problem" nennen. Niemand benutzt
eine Chipkarte, solange es nicht strategisch gut aufgestellte Terminals
gibt, in die die Chipkarte hineingesteckt werden muss. Flächendeckende
Anwendungen sind das Ziel der Industrie und ihrer Lobbyisten. In ihren
Veröffentlichungen10 freuen sie sich derzeit über die neuesten Erfolge:
- das neue Meldeverfahren ELENA11 (Job-Card) für Arbeitsagenturen und ihre Kunden. (Ohne Karte kein Arbeitslosengeld.)
- die neue elektronische Gesundheitskarte. (Ohne Karte keine Behandlung beim Arzt.)
- die Altersprüfung mit Chipkarten an Zigarettenautomaten. (Ohne Chipkarte keine Zigaretten.)12
Alle drei Anwendungen, die es im Ausland ziemlich selten gibt, wurden vom deutschen Gesetzgeber verordnet. Die ersten beiden gehören zur zweiten Chipkartengeneration, den intelligenten Karten. Alle Arbeitsagenturen, Arbeitslosen, Arztpraxen und Versicherte müssen jetzt neue Karten und Lesegeräte bekommen, die etwa fünfmal so teuer sind, wie die der ersten Generation. Bei der eGK bezahlen alles die Versicherten.
HealthCard, Foto: juhansonin
http://www.flickr.com/photos/juhansonin/393271975/sizes/o/
Vorläufig wird technisch mit den jetzt neu ausgegebenen eGK kaum mehr
gemacht als mit den Krankenversichertenkarten oder den
Magnetstreifenkarten. Anfang 2010 wird eine "bis aufs Gerippe
abgespeckte" Version der eGK ausgegeben, die allerdings später durch
Software-Updates über das Netz fast beliebig ausgebaut werden kann. Die
Chipkartenindustrie hat also mit denselben Verkaufsargumenten bereits
die nächste Technologie an die Versicherten verkauft, bisher, ohne den
versprochenen Mehrwert zu liefern. Ein Sarkastiker würde sagen: Schön
für unsere Wirtschaft. Jetzt kann sie 2020 mit denselben Argumenten:
elektronische Krankenakte, verschiedene Tarife, ihre nächste, fünfmal so
teure technische Generation verkaufen. Eigentlich haben diese Firmen
das Geschäftsmodell der Rüstungsindustrie gefunden. Diese verkauft auch
mit immer komplexeren Systemen stets dasselbe, Sicherheit, und sie lebt
davon, dass sie es nie erreicht. Die Gesundheitstelematik-Industrie
nennt ihr Geschäftsziel: Kommunikation im Gesundheitswesen. Warum wurden
der elektronische Arztbrief und die Patientenakte im Netz nicht
erreicht? Das erklärt eine
Kurze Geschichte der Gematik
Die im Januar 2005 gegründete Gematik13 Gesellschaft für
Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH ist die Organisation zur
Einführung der eGK und zur Schaffung einer neuen
Telekommunikations-Infrastruktur, genannt
"Gesundheitstelematik-Infrastruktur". Die Schaffung der Gematik wurde
2003 ins Gesetz geschrieben14. Sie soll die eGK und ihre Infrastruktur
definieren, testen und betreiben. Die Krankenkassenverbände und die
Verbände der Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhäuser usw.) als Gruppen
sind zu je 50 % Träger. In einem Beirat sind unter anderem zusätzlich
der Staat, die IT-Industrie und der Bundesbeauftragte für Datenschutz
vertreten. Obwohl die Gematik GmbH alleine von den Krankenkassen
finanziert wird, hat die IT-Industrie bisher einen bestimmenden Einfluss
auf die "Gesundheitstelematik" gehabt.
Die Definition der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen
Die Architektur für die Gesundheitstelematik stammt vom Konsortium "bIT4Health"15, das sich 2003 selbst wie folgt präsentierte:
"Zur Unterstützung des Projekts »Elektronische Gesundheitskarte« wurde vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung nach einer europaweiten Ausschreibung ein Projektkonsortium bestehend aus den Firmen IBM Deutschland GmbH, dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO), der SAP Deutschland AG & Co KG, der InterComponentWare AG und der ORGA Kartensysteme GmbH beauftragt. Am 3. September 2003 fand im Beisein von Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder das Kickoff-Meeting für das Projekt »bIT4health« statt.
Das Ziel des Projekts »bIT4health« ist es, die bundesweite Einführung der elektronischen Gesundheitskarte vorzubereiten. Im Mittelpunkt der Arbeiten des Projekts »bIT4health« steht die Definition einer herstellerneutralen Telematik-Rahmenarchitektur und Sicherheitsinfrastruktur. Weitere begleitende Aktivitäten sind in den Bereichen Akzeptanzbildung, Projektmanagement, Qualitätssicherung und der wissenschaftlichen Begleitung gebündelt. Das Projektkonsortium »bIT4health« begleitet die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte über die Definitionsphase der Rahmenarchitektur hinaus während der Testphase bis hin zur Einführung und dem ersten Betriebsjahr in 2006."
Auch bIT4health wurde aus Krankenkassenbeiträgen bezahlt. Hier ist,
wie zu erkennen ist, nur die Industrie vertreten. Die ORGA und das
Fraunhofer-Institut kennen Sie schon. Ihnen fallen drei neue Beteiligte
auf, InterComponentWare, SAP, und IBM.
InterComponentWare AG (ICW)16, 1998 gegründet, beschäftigt sich vor
allem mit Vernetzung im Gesundheitswesen. Sie wird uns wieder begegnen,
wenn vom Hausarztmodell die Rede sein wird. Hauptinvestor bei ICW ist
der Mitbegründer und Miteigentümer von SAP, Dietmar Hopp. (Auch bekannt
als Hauptsponsor des Bundesligavereins TSG 1899 Hoffenheim.)
IBM interessiert sich mit Erfolg für die Netze und den Betrieb von
Serverdiensten in der Telematikinfrastruktur. Es wurden bereits
millionenschwere Aufträge der Gematik an IBM erteilt, auch diese bezahlt
aus Krankenkassenbeiträgen. Bislang bleibt diese Infrastruktur auch
nach dem eGK-Rollout ohne großen Nutzen.
Das Ergebnis der Definitionsphase von bIT4health war eine technische
Strukturbeschreibung, groß, aufwendig, umfassend, gesichert, die alle
Beteiligten und ihre Systeme einbezog. Und immer die Wichtigsten, für
das Anwendungsfeld beworbenen Produkte der IT-Industrie. Diese
Architektur bestimmt die Planungen der Gematik bis heute. Deshalb wollen
wir einen kurzen Blick auf diese Zielarchitektur werfen.
eGK behindertengerechter Kiosk
Gematik-Entwurf, Foto: Detlef Borchers
Diese Strukturbeschreibung (Architektur) teilt die IT im Gesundheitswesen in vier große Blöcke:
- In den Arztpraxen und Apotheken, und vielleicht sogar beim Versicherten zu Hause gibt es die Primärsysteme, in der Architekturbeschreibung ist das der "Service Consumer Tier". Alle Systeme der Ärzte, Krankenhäuser, Krankenkassen, Apotheken, ja sogar zukünftig der Patienten, die Gesundheitsdaten erfassen oder darstellen, sind Primärsysteme. Sie enthalten Daten, die zukünftig in die Struktur hinein oder aus ihr heraus übermittelt werden können oder sollen. Es gibt bereits Zehntausende solcher Systeme, nämlich in den meisten Arztpraxen und in allen Krankenhäusern, Kassen und Apotheken. Sie sollen verbunden werden mit
- der Telematikinfrastruktur, die von der Gematik entwickelt wurde und wird. Diese ist noch nicht im Produktivbetrieb, aber teilweise schon entwickelt und getestet, und ihre Inbetriebnahme ist das große Ziel. Entsprechende Konzessionen sind schon vergeben. Diese Telematikinfrastruktur ist wiederum verbunden mit
- den Fachdiensten, die in der Architektur vom "Service Provider Tier" bereitgestellt werden. Dazu gehören zum Beispiel: elektronische Patientenakte, elektronisches Rezept, Versichertendatenmanagement. Also all die Anwendungen, die derzeit geplant sind und die es in der Regel noch nicht gibt. Bei der Patientenakte ist z.B. nicht klar, wer sie bezahlen soll.
- Letzter Bestandteil sind die Mehrwertdienste. Dies sind beliebige
weitere Anwendungen, die Teile der Telematikinfrastruktur nutzen, auf
mehr oder weniger freiwilliger Basis. Beispiel: Anwendungen der
privaten Krankenversicherung. Sie dürfen die Telematikinfrastruktur,
die allein von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird, mit nutzen.
Sozusagen ein Geschenk an die reichere Konkurrenz. Weiteres Beispiel:
Wahltarife innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung, wie das
Hausarztmodell, auf das wir im Kapitel Gesundheitspolitik zurückkommen.
Der oben erwähnte zweite Punkt, die Telematikinfrastruktur teilt sich wiederum in drei Schichten auf:
- Konnektoren, die zum Zugriff auf die eGK und zum Transfer von Daten von und auf diese dienen,
- Netzdienste, über die die Daten transportiert werden, und
- Broker-Services (Anwendungsgateways), die die Verteilung der Daten
an die Fachdienste zentralisieren und teilweise auch Daten
anonymisieren. Zum Beispiel können die Broker die Information verbergen,
welcher Arzt eine Behandlung vorgenommen hat.
Diese gesamte Infrastruktur kann auch von den Mehrwertdiensten benutzt werden 17.
Für den Informationsaustausch innerhalb des eGK Systems werden Web
Services genutzt. Interessant daran ist, dass wegen dieses
Nachrichtenformats große Dateien, wie Röntgenbilder, Computertomografie-
oder Videodaten, nicht im Telematik-System übermittelt werden können.18
Diese Daten könnten z. B. nicht in der elektronischen Patientenakte
gespeichert werden, falls es sie mal gibt. Selbst wenn alles wie von den
Projektinitiatoren geplant und verlaufen wäre, wäre trotzdem
sichergestellt, dass der Industrie ein sehr gutes Verkaufsargument für
die nächste Innovationsrunde erhalten bleibt.
Der einzige Fachdienst, der derzeit19 in NRW neu eingerichtet wird,
ist der elektronische Stammdatenabgleich. In der Gematik-Terminologie:
Fachdienst Versichertendatenmanagement. Die Anschrift des Versicherten
und sein Zuzahlungsstatus werden jetzt bei jedem Arztbesuch gegen den
Bestand der Krankenkasse geprüft, gegebenenfalls aktualisiert, und auch
aktuell auf die Karte zurück geschrieben. Nun steht auf jeder alten KVK
schon die Krankenkasse und die unveränderbare Versicherten-Nummer jedes
Versicherten. Mit diesen Kennzeichen als Schlüssel holt man bei jedem
Arztbesuch dessen aktuelle Adresse und den Zuzahlungsstatus aus dem
Netz, sofern sie sich geändert haben. Man bräuchte die Adresse für die
Arztpraxis nicht mehr von der Karte zu holen, aber man schreibt sie
darauf. Für die Krankenkassen ist dieses Verfahren eine Verbesserung,
weil es den Austausch der Karten bei Adressänderung vermeidet20. Es wäre
aber auch mit der KVK machbar gewesen. Man hätte die gespeicherte
Anschrift ja ab sofort einfach ignorieren und die Adresse immer online
holen können. Die Frage, warum die Krankenkassen das alles trotzdem
mitmachen und bezahlen, beantworten wir im Kapitel Gesundheitspolitik.
Sie haben strategische Gründe.
Aus all den Anwendungen, die in den Gesetzen stehen, und für die die
eGK eingeführt wird, e-Rezept, e-Arztbrief, elektronische
Patientenakte21, wurde bisher nichts. Aber die Anwendungen gehörten gar
nicht zur Telematikinfrastruktur, die die Gematik aufbauen sollte. Aus
eigener Sicht ist die Gematik somit erfolgreich. Die Interessen der
IT-Industrie, die dieser Strategie und dem Auftrag zugrunde lagen,
wurden gut wahrgenommen.
Für Fortsetzungen ist gesorgt. Das Gesundheitswesen ist ein
"Leuchtturmprojekt" des e-Government. E-Government wurde 1999 von
Rot-Grün erfunden22 und wird seit 2005 auch von der EU gefördert.
Zielsetzung ist unter anderem, durch staatliches Handeln
Spitzentechnologie zu fördern und zugleich die Verwaltung zu
modernisieren, indem Bürger z. B. über das Internet Dienstleistungen der
Verwaltung nutzen. 2005 beschloss das Bundeskabinett im Rahmen des dazu
gehörigen Programms "Deutschland online" eine "Gemeinsame
e-card-Strategie", mit der die elektronische Gesundheitskarte, der
digitale Personalausweis, ELENA und die Elektronische Steuererklärung
eng aufeinander abgestimmt werden sollten23. Die Führung des deutschen
e-Government liegt mittlerweile beim Ministerium für Wirtschaft,
Forschung und Entwicklung. Seit 2006 gibt es dort den "Nationalen
IT-Gipfel", dem vor allem Vertreter der IT-Industrie angehören, mit
einer Arbeitsgruppe 6, "IKT und Gesundheit". Den Vorsitz darin hat seit
2006 ein Vertreter von Giesecke & Devrient. Weiter sind Siemens und
die Fraunhofer-Gesellschaft sowie Philips, T-Systems und Vodafone
vertreten. Einzige Organisationen der Anwendungsbranche sind der
Pharmakonzern Bayer und die AOK. Ärzte sind nicht vertreten24.
Infusionen – Foto: anolobb
http://www.flickr.com/photos/27384147@N02/4420077270/sizes/o/
Probleme bei der Realisierung der Anwendungen
Während der Umsetzung der eGK traten drei Probleme auf, die bisher den Rollout der neuen Anwendungen blockiert haben:
- Gegensätzliche Interessen der verschiedenen Beteiligten (Ärzte, Krankenkassen, IT-Industrie, Datenschutzbeauftragte) blockieren sich gegenseitig, sodass für neue Anwendungen keine gestaltungsfähige Koalition zustande kommt. Die Anwendungen (Fachdienste) kamen nicht zustande. Es blieb bei der nackten Infrastruktur. Das Ergebnis: Knochen ohne Fleisch.
- Ohne diese Anwendungen mit echtem Mehrwert entstand kein hinreichendes Interesse bei Krankenkassen oder Ärzten, sich aktiv für den Rollout der eGK einzusetzen, sodass nur IT-Industrie und Politik als energische Befürworter übrig blieben. Ohne Unterstützung aus der Branche ist aber im Gesundheitswesen wenig zu machen.
- Bei anderen e-Government-Projekten können die Probleme mit dem
größeren Zeit- und Kostenbedarf der neuen Technologie den Betroffenen
einfach übergestülpt werden, weil ihre Gruppen schlecht organisierten
sind (z. B. in den Arbeitsagenturen). Ärzte sind noch immer eine gut
organisierte Gruppe.
Dadurch kam es zu erheblichen Verzögerungen des Projekts. Gehen wir die Gründe im Einzelnen durch.
Gegensätzliche Interessen verhindern Anwendungen
Die Architektur der Telematikinfrastruktur ist so zentralistisch
angelegt, dass man bei jeder Anwendung allen Beteiligten gerecht werden
musste – vor allem: den Finanziers (Krankenkassen), und den Ärzten, die
die praktische Umsetzung tragen. Das System mit Teillösungen von unten
nach oben wachsen zu lassen, war nicht vorgesehen. Dadurch kam es aber
zu einer gegenseitigen Blockade. Die Problematik wird mit drei
Beispielen verständlicher:
Elektronische Patientenakte
Die Krankenkassen wollen, um überflüssige Behandlungen sowie
Abrechnungsbetrug zu vermeiden, die elektronische Patientenakte. Dazu
brauchen sie den zentralen Zugriff auf die Krankengeschichten, am besten
patienten- und arztbezogen. Die Ärzte wollen das Arztgeheimnis schützen
und außerdem wollen die meisten Ärzte sich nicht in die Karten sehen
lassen, weil sie fürchten, dass das zu zusätzlichem Zeitaufwand und
später zu Honorarsenkung führt. Sie wollen Daten leicht versenden und
empfangen können, und dies vor allem von Kollege zu Kollege. Ähnlich
sind die Interessen der Krankenhäuser. Für Ärzte bzw. Krankenhäuser sind
ihre Patientenakten ein Mittel der Kundenbindung. Der Vertrauensaufbau
und die Untersuchungen am Anfang lohnen sich oft erst durch
Dauerbehandlung. Ein zu leichter Wechsel des Patienten würde diese
zukunftsorientierte Kalkulation zerstören.
Wenn wir bei einem Krankenhauskonzern wie Asklepios oder Rhön-Klinikum
behandelt werden, stehen unsere medizinischen Informationen jedem
Mitarbeiter zur Verfügung, der uns behandelt, dies auch Krankenhaus
übergreifend. Aber die Unternehmen hüten sich, die Akten auch nach
draußen zu geben. Patienten oder Wettbewerber könnten Haftungsprozesse
anstrengen, die Konkurrenten könnten mit besseren Angeboten locken,
Krankenkassen die Abrechnungssteuerung monieren usw. Am liebsten möchten
diese Krankenhäuser nur dem weiterbehandelnden Arzt, der einen
entlassenen Patienten behandelt, elektronisch die Informationen
schicken, die sie für ihn ausgesucht haben. Eine Infrastruktur zur
Datenübertragung nur nach Wunsch wäre zurzeit in ihrem Interesse. Aber
die Krankenkassen bezahlen eine Weiterentwicklung in diese Richtung
nicht, weil sie keinen direkten Vorteil davon haben.
Bild des Versicherten auf der Karte
Wenn man die elektronische Patientenakte als wesentliches Ziel sieht –
wie die IT-Industrie, die daran am meisten verdienen kann –, dann muss
man für eine absolut wasserdichte Identifikation des Besitzers der Akte
eintreten. Im IT-Deutsch heißt das: für wasserdichte Authentifizierung
des Inhabers der eGK mit der Qualität des Personalausweises. Das heißt,
nur Bilder auf der Karte zu zeigen, bei denen eine Amtsperson die
Qualität des Bildes geprüft hat, und bei denen die abgebildete Person
der Ausweisinhaber ist. Dadurch käme das hohe Maß von Vertrauen
zustande, das erforderlich wäre, damit die Versicherten freiwillige
Anwendungen nutzen, die sie womöglich extra bezahlen müssen.
Für die Krankenkassen würde die Kartenausgabe mit sicherer
Authentifizierung unnötig kostspielig, zeitraubend und störanfälliger.
Die Kosten stehen für sie in keinem Verhältnis zum mittelfristigen
Nutzen. Der Verzicht auf sichere Authentifizierung behindert die
elektronische Patientenakte. Die Spezifikation der Gematik spricht sich
vage für eine sichere Identifikation aus, lässt aber gleichzeitig zu,
dass Karten ohne Bild ausgegeben werden25.
Das elektronische Rezept
Das Arzneimittelrezept zunächst auf der Karte selbst geplant, war im
Interesse der Apotheken, u.a. weil damit den Patienten die Benutzung von
Versandapotheken im Internet praktisch unmöglich würde. Dadurch können
die hohen Arzneimittelpreise und Handelsspannen in Deutschland
verteidigt werden. Auf Drängen der Krankenkassen wurde das Rezept von
der Karte entfernt und in einen Fachdienst verlagert, auf den dann auch
Versandapotheken Zugriff haben können. Diese Anforderung, das Rezept in
einen Fachdienst zu verlagern, kam so spät heraus, dass sie nicht mehr
rechtzeitig umzusetzen war.
eGK Patientenkiosk ProConsult Gematik-Entwurf,
Foto: Detlef Borchers
Zwischenergebnis: gegensätzliche Interessen
Die Spezifikation innerhalb der Gematik machte so manche Runde, ohne
voran zu kommen. Ähnlich war es bei anderen Themen: In der Anfangsphase
2004 musste das Gesundheitsministerium erheblichen Druck bis hin zur
Ersatzvornahme ausüben, um die Spitzenverbände zum Handeln zu zwingen26.
Um die Telematikinfrastruktur erfolgreich ausrollen zu können, musste
unter Zeitdruck eine Anwendung nach der anderen über Bord geworfen
werden, zuletzt das e-Rezept. Wie bei einem Schiff in Seenot, auf dem
der Kapitän die Fracht über Bord werfen lässt, damit Schiff und
Mannschaft überleben. In dem Bild ist die Telematikinfrastruktur das
Schiff, das bislang gerettet wurde. Die Mannschaft, die an Bord bleibt,
ist die Belegschaft der Gematik.
Ohne Anwendungen kein Interesse
Es hat acht Feldversuche zur eGK mit Zehntausenden Patienten und
Hunderten Ärzten gegeben, wie es bei einem so großen Projekt sein muss.
Die Hälfte wurde abgebrochen, weil Krankenkassen und Ärzte viel
zusätzlichen Aufwand sahen, aber keinen Nutzen.
portabler Notrettungs Laptop mit eGK-Leser in ADAC-Hubschrauber,
Foto: Detlef Borchers
Zuletzt in Heilbronn27. Der Chef der AOK Rheinland-Hamburg, einer der großen Krankenkassen in der Pionierregion NRW, hat in einem bekannt gewordenen Brief28 an den NRW-Gesundheitsminister sehr deutlich gemacht, dass die Krankenkassen derzeit gar keinen Vorteil durch die eGK sehen und dass der Rollout sich vor allem dadurch so hinzieht. Genauso sehen es die Ärzte. Auf mehreren Ärztetagen29 wurden extrem kritische Resolutionen zur eGK verabschiedet.
Probleme im praktischen Umgang, Zeit- und Kostenbedarf
Bei der Erprobung der eGK stellten sich zwei wesentliche Probleme heraus, Laufzeitprobleme und Probleme mit der PIN-Eingabe.
Bei Empfang eines neuen Patienten in der Arztpraxis wird dessen
Chipkarte eingelesen. Wenn von der Karte nur Daten gelesen werden, geht
das sehr schnell. Wenn ein Online-Zugriff durch alle Schichten der
Telematikinfrastruktur erfolgt, dauert dies wesentlich länger. Es
entstehen längere Wartezeiten30. Wer die Situation am Empfang größerer
Arztpraxen kennt, der weiß, dass mehr Wartezeit die Einstellung von
zusätzlichem Personal erfordert. Unklar bleibt, wer dieses zusätzliche
Personal bezahlt.
Ähnlich ist es mit der PIN-Eingabe. Das Sicherheitskonzept sieht vor,
dass sich die Karte des Arztes – der Heilberufsausweis – und die Karte
des Patienten – die eGK – gegenseitig authentifizieren, bevor ein
Zugriff auf die Infrastruktur erfolgt. Das erfordert, dass beide jeweils
ihre PIN eingeben.
Bei einem Modellversuch in Flensburg 200831 wurden 75 % der eGK
gesperrt, nachdem die Patienten ihre PIN dreimal falsch eingegeben
hatten. 30 % der Ärzte sperrten auf die gleiche Weise ihren
Heilberufsausweis, was natürlich viel schlimmer ist, denn von ihnen
hängt das System ab. Weiteres Ärgernis für die Ärzte ist, dass die
ständigen persönlichen PIN-Eingaben ihre Zeit kosten und alle in der
Praxis Anwesenden auf sie warten müssen.
Daher erfand man zwei Lösungen:
- Durch eine Komfort- oder Stapelsignatur können Ärzte entweder mit einem RFID-Chip signieren, oder sie signieren viele Rezepte gleichzeitig,
- Ärzte dürfen als Treuhänder der Patienten deren PIN verwalten.
Für jeden Technikversierten wird dadurch das gesamte Sicherheitskonzept der e-card fragwürdig. Für so eine Lösung hätte man nicht unbedingt intelligente Chipkarten gebraucht. Intelligente Chipkarten und eine zentrale Sicherheitsinfrastruktur standen der praktischen Benutzbarkeit entgegen.
Reaktion der Politik
Ärzte gehören traditionell zum Klientel der FDP. Ab 2007 nahm die FDP
unter dem Druck der Ärzte kritische Positionen zur eGK ein. Im
Bundestagswahlkampf 2009 forderte sie den Stopp der eGK32 und wurde in
die Regierungskoalition gewählt.
Im Koalitionsvertrag 200933 wurde vereinbart, dass das eGK-Projekt
zunächst ausgewertet und nicht weiter vorangetrieben wird.
Gesundheitsminister Rösler hat aber deutlich gemacht, dass der Rollout
in NRW erst einmal weitergehen soll. Das weitere gesamte Vorgehen der
FDP in diesem Themenfeld ist offen.
Fazit
Das Problem mit den Chipkarten
Es ist bemerkenswert, wie umfassend die Chipkarten-Industrie es
geschafft hat, dass neue Anwendungen im Gesundheitswesen um ihre eigene
Erfindung, der intelligenten Chipkarte, herum maßgeschneidert werden.
Dabei wird auf eine zentrale Infrastruktur für die Speicherung von
Gesundheitsdaten, mit einem einheitlichen Verschlüsselungsmedium eGK
verzichtet. Aus der Sicherheitsbranchen-Logik heraus wäre diese
Verschlüsselung jedoch zwingend notwendig. Die alte KVK oder der
zukünftige Personalausweis hätten die Identifikation des Patienten auch
erledigen können, wenn eine solche Identifikation nötig wäre. Übrigens
setzen die großen Klinikkonzerne Chipkarten nicht zur
Patientenverwaltung ein, sondern nur als Wertkarten zum Telefonieren.
Wenn man die Parallelen zu ELENA und den Zigarettenautomaten sieht –
beides zunächst Alleingänge Deutschlands in Europa – drängt sich
folgende Vermutung als Antwort auf: Lobbyismus ist vermutlich die
Ursache für die Chipkarteneinführungen. Nun können dahinter ja weitere
Argumente stecken. Zum Beispiel: Chipkarten sind eine deutsche
Technologie, wir unterstützen Chipkarten-Anwendungen in Deutschland, um
sie ins Ausland exportieren zu können. Deutschland will
Exportweltmeister bleiben. Die Frage, ob man Beitragsgelder der
Krankenversicherung zur Exportförderung nutzen darf, muss jeder
persönlich nach seinen politischen Präferenzen beantworten.
Dazu muss nach Anwendungsfeldern gesucht werden, die es in derselben
Form im Ausland gibt. Bei den Zigarettenautomaten ist das gelungen. In
den meisten Ländern der Welt fehlt jedoch eine Voraussetzung für
elektronische Karten im Gesundheitswesen, egal ob sie intelligent oder
dumm sind. Das deutsche sogenannte Sachleistungsprinzip besagt, dass der
Patient von seiner Versicherung nur "Sachleistungen", also Behandlungen
und Heilmittel, aber kein Geld erhält. Die weltweite Regel ist, dass
die Patienten beim Arzt die Behandlungskosten vorschießen, und das Geld
von ihrer Versicherung zurückholen. Das Ausland braucht den Ausweis
nicht, um für die Abrechnung der Ärzte mit der Kasse dem Patienten
Abrechnungsdaten zuzuordnen. Der Patient braucht einen Ausweis
höchstens, um dem Arzt oder Krankenhaus seine Kreditwürdigkeit zu
zeigen, wofür aber auch die Kreditkarte direkt ausreicht. Deshalb gibt
es im Ausland Karten wie die KVK ebenfalls nicht. Die Situation ist wie
bei uns in der privaten Krankenversicherung, die auch keine
maschinenlesbaren Karten hat und derzeit keine Chipkarten plant.
Dementsprechend ist auch die Situation im größten Markt der Welt, den
USA. Zu Präsident Obamas Gesundheitsreform gehört eine millionenschwere
IT-Initiative für das Gesundheitswesen (Telemedicine). Karten sind dort
kein Thema, stattdessen: Datenautobahnen zwischen Krankenhäusern. Das
bedeutet: Schlechte Karten für intelligente Chipkarten im
Gesundheitsbereich weltweit.
Anbieter der Kommunikationsstruktur – zum Beispiel IBM, T-Systems –
gestalten deshalb bei uns, in ihrer Gemeinschaft mit
Chipkartenherstellern, ihre Produkte so, dass die zentralen und
hierarchischen Lösungen nur noch zu wenigen Märkten passen. Nun ist
Deutschland als Markt groß genug, um Geld zu verdienen. Giesecke &
Devrient haben Großaufträge noch in Taiwan, Slowenien und Österreich
akquirieren können, ansonsten gibt es flächendeckende Chipkarten im
Gesundheitswesen bisher nirgends. Ein eventuell legitimes Ziel der
Politik, Exportförderung, wird mit der Chipkarte nicht erreicht.
Stattdessen bleibt es bei schlichter Subvention für private Unternehmen,
mit Mitteln der Politik, bezahlt aber nicht aus Steuergeldern, sondern
aus Versicherungsbeiträgen. Wenn man Skandale sucht, wird man hier
fündig.
Wenn der IT-Kabelhersteller Belkin den Vorsitzenden für die nationale
IT-Strategie-Arbeitsgruppe für das Gesundheitswesen gestellt hätte,
bräuchten wir uns nicht zu wundern, wenn wir zehn Jahre später in der
Arztpraxis öfter stolpern müssten. Deutschland hat Giesecke &
Devrient beauftragt. Wundern wir uns also nicht, wenn wir 2013 beim Arzt
PINs eingeben, und warten müssen.
Pillenbox – Foto: Amit Belani
http://www.flickr.com/photos/amitbelani/199288914/sizes/l/
Das Bündnis zwischen Krankenkassen und IT-Industrie, und die fehlende Vertretung der Patienten
Der Machtblock, der die Computerisierung des Gesundheitswesens
vorantreibt, besteht aus den Krankenkassen und der IT-Industrie. Die
Krankenkassen handeln natürlich aus den besten Gründen:
Qualitätssicherung, Kostensenkung. Sie brauchen dazu Informationen über
die ärztlichen Behandlungen. Die wollen sie durch
Informationstechnologie bekommen. Symptomatisch ist, dass Gernot Kiefer,
der Vorstandsvorsitzende von BITMARCK, einer Firma für
Krankenkassen-IT, am 1.1.2010 von dort in den Vorsitz des
Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung wechselte. Es ist
gar keine schlechte Idee, in Anbetracht der Aufgaben des
Spitzenverbandes nach heutigem Stand.
Unvertreten bleiben gewisse Interessen der Ärzte und Patienten. Die
Patienten werden offiziell durch die Krankenkassen vertreten,
schließlich wählen die Patienten deren Gremien bei den Sozialwahlen. Die
Kassenärztliche Vereinigung vertritt die Ärzte. Beide Organisationen
nehmen schon aufgrund ihrer Größe – tausende Mitarbeiter – weitgehend
die Interessen ihrer eigenen Vorstände und Beschäftigten wahr: mehr
Verantwortung, neue interessante Mitarbeiter in der Ebene unter einem
selbst. Wenn diese Broschüre einen Beitrag dazu leisten kann, dass die
Mitglieder die Kontrolle über ihre Selbstverwaltung zurückholen, hat sie
ihren Zweck neben der Aufklärung und Information in diesem Themenfeld
erreicht.
Anmerkungen
- Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – § 291a?Elektronische Gesundheitskarte http://bundesrecht.juris.de/sgb_5/__291a.html
- Ärztekammer Nordrhein, Oktober 2009, http://www.aekno.de/page.asp?pageId=7576&noredir=True
- http://www.stoppt-die-e-card.de/
- http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Dethloff
- Patent: http://patft.uspto.gov/netacgi/nph-Parser?patentnumber=4092524
- Gesundheitsreformgesetz, http://dipbt.bundestag.de/doc/brd/1988/D200+88.pdf
- Der Hergang wird von Peter Debold dort beschrieben: http://www.debold-lux.com/html/gvksysteme.html, abgerufen am 24.03.2010
- Debold a.a.O.; Held, Hans-Joachim: Studie zur Krankenversichertenkarte, Hrsg. Siemens AG, Bereich Datentechnik, Vertrieb Sozialversicherung, München o.J. (1987), S. 59 ff.
- http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=17093
- siehe Fussnote 12
- "ELENA" ist eine Abkürzung für "Elektronischer EntgeltNachweis" siehe auch die Verfassungsbeschwerde https://petition.foebud.org/FoeBuD/informationen-zu-elena
- Presseerklärung des Fraunhofer-Instituts für Sichere Telekooperation (SIT) vom 13.02.2003, http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/13081/, abgerufen am 24.03.2010
- Homepage http://gematik.de Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Gematik
- Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – § 291b Gesellschaft für Telematik http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__291b.html
- http://www.telemedizinfuehrer.de/index.php?option=com_rd_glossary&task=view&id=5
- InterComponentWare Homepage: http://www.icw-global.com/de/de/
- Gesamtarchitektur Version vom 31.8.09, http://www.gematik.de/upload/GA_ZentraleDienste_5171.zip, darin die Datei gematik_GA_Gesamtarchitektur_V1_7_0.pdf, abgerufen am 24.03.2010
- Gematik Gesamtarchitektur (vorige Fußnote), S. 57
- Stand März 2010
- Im Übrigen auch eine außerordentliche Umweltbelastung, da die Plastikkarte inkl. Chip im Hausmüll entsorgt wird.
- Für eine umfassende Liste siehe Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, § 291 a
- Endlich: Der Staat wird modern, von Stefan Krempl, 21.12.1999, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5615/1.html abgerufen am 27.05.2010
- Gemeinsame Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit, des Bundesministeriums des Innern, des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales und des Bundesministeriums der Finanzen vom 14.03.2005, http://www.verwaltung-innovativ.de/nn_684682/DE/Presse/Artikel/ArtikelArchiv/2005/20050314__bundeskabinett__beschliesst__gemeinsame__ecard__Strategie__artikel.html, abgerufen 24.03.2010
- Liste aller Teilnehmer der Arbeitsgruppe in: Prof. Dr. Rolf G. Heinze
PD Dr. Josef Hilbert: Vorschläge und Handlungsempfehlungen zur Erarbeitung einer kundenorientierten eHealth-Umsetzungsstrategie im Auftrag der Arbeitsgruppe 7 "IKT und Gesundheit" des Nationalen IT-Gipfels, Bochum 2008, Seite 37, http://www.sowi.rub.de/mam/content/heinze/heinze/ag7_ehealth_gutachten3it_gipfel.pdf - Spezifikation der Karte, Teil 3, http://www.gematik.de/upload/eGK_V2.2.1ff_100118_5273.zip, darin gematik_eGK_Spezifikation_Teil3_V2_2_0.pdf, Seite 19 – 20
- Detlef Borchers, Gesundheitskarte: Die Mühe der Ebenen, 30.09.2005, http://www.heise.de/newsticker/meldung/Gesundheitskarte-Die-Muehe-der-Ebenen-134122.html
- http://www.heise.de/newsticker/meldung/Elektronische-Gesundheitskarte-Testregion-Heilbronn-beendet-Tests-892180.html
- http://www.freie-aerzteschaft.de/pub/download/download.php?compid=104833&catid=1022 , abgerufen am 17.08.2009, unter dieser URL am 27.05.2010 nicht mehr verfügbar, Archiv des Verfassers
- Wortlaut der Resolutionen 2009 und 2010 unter: http://wiki.liste-neuanfang.org/index.php5?title=%C3%84rztetage_zur_Elektronischen_Gesundheitskarte
- In: Gematik GmbH, Fachkonzept Versichertenstammdatenmanagement (VSDM), Version: 2.9.0 vom 15.9.2009 wird unter Ziffer 7.1.6.1. auf Seite 71/72 die Forderung der Bundesärztekammer nach Antwortzeiten unter einer Sekunde wiedergegeben. Sie wird als unrealistisch bezeichnet, es werden, je nach Anwendungsfall, "wünschenswerte und tolerable Antwortzeiten" zwischen 6,5 und 30 Sekunden spezifiziert. Von der Website der Gematik am 28.5.2010 heruntergeladene aktuelle Version, http://gematik.de/upload/Fachanwendungen_5170.zip
- http://www.heise.de/newsticker/meldung/Elektronische-Gesundheitskarte-Gematik-unterstuetzt-PIN-Eingabe-durch-den-Arzt-199246.html
- FDP-Wahlprogramm: (siehe Seite 19) http://www.deutschlandprogramm.de/files/653/FDP-Bundestagswahlprogramm2009.pdf
- Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP: (siehe Seite 87) http://www.cdu.de/doc/pdfc/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf
Das FIfF unterstützt die weitere Verbreitung der in dieser Broschüre veröffentlichten Artikel. Aus diesem Grund nutzen die Autor_innen eine Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Lizenz (CC BY-SA) für ihre Inhalte.
Wenn nicht anders angegeben dürfen Sie:
Zu den folgenden Bedingungen:
- Artikel vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen
- Abwandlungen und Bearbeitungen der Artikel anfertigen
Eine vereinfachte Zusammenfassung der Lizenz finden Sie auf der Webseite von Creative Commons:
- Die Urheberrechtsinformationen müssen erhalten bleiben.
- Namensnennung – Sie müssen den Namen der Autor_innen und das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF) als Herausgeber nennen (aber nicht so, dass es so aussieht, als würde sie/es/er Sie oder Ihre Verwendung des Werks unterstützen).
- Weitergabe unter gleichen Bedingungen – Wenn Sie das lizenzierte Werk bzw. den lizenzierten Inhalt bearbeiten oder in anderer Weise erkennbar als Grundlage für eigenes Schaffen verwenden, dürfen Sie die daraufhin neu entstandenen Werke bzw. Inhalte nur unter Verwendung von Lizenzbedingungen weitergeben, die mit denen dieses Lizenzvertrages identisch oder vergleichbar sind. Im Falle einer Abwandlung ist es notwendig, dass Sie einen Hinweis darauf geben, dass es sich um eine Abwandlung handelt.
- Der Artikeltitel und die URL müssen angegeben werden (e.g. http://fiff.de/egk).
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/
Im Zweifel orientieren Sie sich bitte an dem rechtsverbindlichen Lizenzvertrag:
http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode
Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
Spendenkonto-Nr: 800 927 929 Sparda Bank Hannover eG (BLZ: 250 905 00)
Mit Ihrer Unterstützung tragen Sie dazu bei, dass auch in Zukunft Artikel unter einer freien Lizenz veröffentlicht werden.