Typische Biographien untypischer Informatiker
Gila Brandt-Herrmann: Typische Biographien untypischer Informatiker. Münster: Waxmann, 2008.
Rezension von Ralf E. Streibl.
In ihrer Dissertation beschäftigte sich die Autorin, selbst Diplom-Informatikerin und Diplom-Pädagogin, mit Bildungsprozessen in Berufsbiographien von Informatikerinnen und Informatikern. Es handelt sich um eine gut gegliederte, umfangreiche empirische Arbeit, in welcher – basierend auf dem Ansatz der Grounded Theory – narrative Interviews mit einigen ausgewählten Informatikerinnen und Informatikern hinsichtlich biographischer Veränderungen untersucht und interpretiert werden. Die zwei Gesprächspartnerinnen und 6 Gesprächspartner wurden ausgewählt, da sie im Laufe der Zeit „Orientierungswechsel vollzogen haben“. Konkret bedeutet dies eine Veränderung ihres Tätigkeitsspektrums im Sinne eines Wechsels oder einer Erweiterung (nicht mehr vorrangig Hard- oder Softwareentwicklung). Die Befragten haben sich ferner für eine zusätzliche Qualifikation im humanwissenschaftlichen Bereich entschieden, welche die meisten von ihnen entweder als Nebenfach im Studium oder parallel zum Beruf absolvierten. Von Interesse war dabei vor allem, inwiefern sich aus den biographischen Veränderungen Bildungsprozesse erkennen lassen.
Zu diesem Zweck beginnt die Autorin ihr Buch mit einem Kapitel über Bildungstheorethische Grundlagen, in der sie vom Humboldtschen Bildungsbegriff ausgeht, diesen jedoch für die heutige Zeit anpasst und z.B. durch eine stärkere Einbeziehung gesellschaftlicher Bedingungen und Machtverhältnisse im Sinne von Horkheimer und Klafki erweitert. Vor dem Hintergrund einer humanistisch orientierten Bildungskonzeption entwickelt die Autorin Fragestellungen, die später als Interpretationshintergrund Eingang in die eigene Untersuchung finden. Es geht dabei um Fragen der Auseinandersetzung mit Themen dieser Welt, um das Verhalten von Menschen in der Welt sowie um Gestaltungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten (S.63ff).
Bevor die Autorin ihre spezifische Untersuchung schildert, widmet sie sich in einem Kapitel dem Informatiker als Grenzgänger zwischen Kulturen und der Selbstverständnisdebatte innerhalb der Disziplin. In einem Unterkapitel greift sie die Biographie Joseph Weizenbaums heraus als Beispiel für einen Computerpionier, der seine Selbst- und Weltreferenzen grundlegend verändert hat (S.89ff). Neben Publikationen von und über Joseph Weizenbaum greift Gila Brandt-Herrmann hier auch auf ein eigens Interview zurück, welches sie 2003 zur Vorbereitung ihrer Studie mit Joseph Weizenbaum geführt hatte.
Den Hauptteil des Buches bildet die umfangreiche, methodisch und inhaltlich detaillierte Darstellung der eigenen Untersuchung. Die Gespräche wurden in Form leitfadengestützter narrativer Interviews geführt, transkribiert und mit Hilfe „sensibilisierender Konzepte“ interpretiert. Auf diese Weise wurden dann die folgenden Fragestellungen untersucht (S.114):
- Welche Ursachen hat die Umorientierung und welche Zusammenhänge gibt es zwischen den bildungsorientierten Phasen und dem Perspektivwechsel?
- Inwiefern sind die Gründe für eine Umorientierung auch Ursachen für bildungsorientierte Lebensphasen?
Die Auswertung der Interviews bringt eine ganze Reihe interessanter Ergebnisse. Beispielsweise geht die Autorin auf die Bedeutung von Differenzerfahrungen ein (z.B. zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Vorstellung technischer Lösungen und ihrer Realisierung, zwischen unterschiedlichen Wertsystemen etc.), deren Erleben für die Interviewten mit Blick auf ihrer eigene Entwicklung wichtig war. Insgesamt erweist sich die Berufspraxis als ein „entscheidender Lernort sowohl für qualifikatorische als auch persönliche Aspekte“ (S.219). Durch die Praxiserfahrungen veränderten die Befragten ihr Bild der Informatik. „Es wird erkannt, dass für die Umsetzung der fachlichen Aufgaben oftmals weniger das technische Know-how entscheidend ist als vielmehr soziale und kommunikative Aspekte der Kooperation zwischen den am Arbeitsprozess Beteiligten“ (ebd.). Doch auch wenn in manchen Fällen konkrete Krisen den Auslöser für weitergehende Bildungsprozesse gaben, so ließ sich dies in der Untersuchung nicht durchgängig feststellen. Auch Gelegenheiten, Zufälle sowie nicht krisenhafte persönliche Entwicklungen können Bildungsprozesse fördern und beeinflussen (S.228ff). Und umgekehrt kann man auch nicht darauf schließen, dass Krisen quasi automatisch zu Bildungsprozessen führen. Entscheidend ist dabei wohl v.a. die damit einhergehende Reflexion. Mit diesem Ergebnis schlägt die Autorin den Bogen zurück und betont die Wichtigkeit einer frühen Allgemeinbildung.
Im Abschlusskapitel reflektiert die Autorin u.a. über Schlussfolgerungen, die die Ergebnisse ihrer Untersuchung bezüglich der Informatikausbildung nahelegen. Sie fordert im Rahmen der Informatikausbildung Erlebnisräume anzubieten, in denen vielfältige praxisbezogene Erfahrungen möglich werden und Anregung geschieht. Dazu zählt sie z.B. multiperspektivisch angelegte Projekte, Vermittlung von Kommunikationssituationen, die die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Arbeit von Informatikern in der Praxis nachvollziehbar machen sowie auch eine am biographischen Hintergrund der Studierenden orientierte Beratung. Als eine besonders wichtige Kompetenz hebt Gila Brandt-Herrmann am Ende ihrer sehr lesenswerten Arbeit die Fähigkeit hervor, „die Perspektive anderer zu übernehmen um aus deren Sicht aus sich selbst und die Welt zu blicken“ (S.267) – eine Botschaft, die umso mehr an Bedeutung gewinnt, je mehr reflektierende und kritische Ansätze von einer zunehmend an Verwertbarkeit und ökonomischen Interessen ausgerichteten Hochschulpolitik als entbehrlich angesehen werden.
(Ralf E. Streibl)