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MIKROPOLIS2010

Arno Rolf: MIKROPOLIS2010. Menschen, Computer, Internet in der globalen Gesellschaft. Marburg: Metropolis 2008.

Rezension von Ralf E. Streibl

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass das Autorenteam Herbert Kubicek und Arno Rolf mit dem Buch MIKROPOLIS – Mit Computernetzen in die Informationsgesellschaft (1985) mancherlei Diskussionen angestoßen hat. Nun erscheint mit MIKROPOLIS2010, verfasst von Arno Rolf unter Mitarbeit einer Reihe weiterer Personen, erneut ein Werk, in dem es um die vielfältigen Aus- und Wechselwirkungen von Informationstechnik in organisatorischen und sozialen Kontexten geht. Bereits in seinem Vorwort stellt Arno Rolf heraus, dass sich seit dem Erscheinen des früheren, namensähnlichen Buches sehr vieles verändert hat – nicht nur im Bereich der Vernetzung. Aus der Erfahrung des schnellen Wandels zieht Rolf die Konsequenz, das jetzige Buch schon im Titel mit einem „Haltbarkeitsdatum“ zu versehen: „Bis zum Jahre 2010 kann unsere Analyse Orientierung geben. Spätestens dann bedarf sie der Überarbeitung“ (S.6).

Die überaus lesenswerte Publikation gliedert sich in drei große Teile. Der erste ist überschrieben Orientierungswissen durch Techniknutzungspfadanalysen. Am Beispiel der Entwicklung des Büros und seiner sich verändernden organisatorischen und technischen Ausgestaltung stellt Rolf heraus, wie wichtig seiner Meinung nach ein historisches Bewusstsein für Technikentwicklungs- und -nutzungspfade ist. Durch eine derartige temporale Perspektive unter Einbeziehung der historisch gewachsenen Strukturen und Kulturen wird es leichter, Risse und Optionen auch bei gegenwärtigen Entwicklungen zu erkennen. Weitere Betrachtungen in diesem Teil widmen sich den Erwartungen hinsichtlich einer Wissensgesellschaft, deren Probleme durch Kommerzialisierung, sowie Alternativen z.B. in Form von Common Goods. Mit einer Überblicksbetrachtung des IT-Entwicklungspfades, die vor allem auf die Frage der Formalisierbarkeit fokussiert, wird übergeleitet zum zweiten Teil des Buches. Die Formalisierungslücke, so Rolf, wird kleiner, wozu u.a. auch die Entwicklungen in Richtung ubiquitous computing beitragen. Dies wird kurz am Beispiel RFID beleuchtet.

Der zweite Teil des Buches ist der Vorstellung des sogenannten MIKROPOLIS-Modells gewidmet. Dahinter verbirgt sich eine Betrachtungsweise, die von soziotechnischen Systemen im Kern über den organisationellen Mikro- bis zum gesellschaftlichen Makrokontext reicht und insbesondere auch Prozesse und Pfade beinhalten soll. IT-Entwicklung wird dabei nicht nur aus der traditionellen Sicht eines technology-push der Informatik-Entwickler und IT-Hersteller gesehen, sondern ergänzend auch aus der Perspektive der IT-anwendenden Organisationen (demand pull). Darüber hinaus wird im Makrokontext der Einfluss von gesellschaftlicher Wertvorstellungen, Normen und Regelungen ebenso mitbetrachtet wie gesellschaftliche Spannungen und Anpassungen. Eingang in das Modell findet dabei auch die historische Entwicklung: „Der Techniknutzungspfad sagt sowohl etwas über die Entstehung von Organisations- und Technikleitbildern aus, als über die Sieger, Verlierer und Konflikte im Zeitverlauf; im Techniknutzungspfad werden »die zu Strukturen geronnenen Handlungen der Sieger« erkennbar“ (S.133). Rolf betont, dass dieses Modell den Versuch darstellt, Orientierungswissen aufzubauen, dadurch, dass es versucht die Entwicklung, Nutzung und Wechselwirkungen von IT in der Wissensökonomie zu systematisieren (S.134). Da einzelne Disziplinen immer auch die ihr eigenen Methoden in ihrer Erkenntnis beschränkt ist, sei das Modell transdisziplinär angelegt: „Die soziotechnische Forschung braucht Konzepte und Methoden aus einer Vielzahl von Disziplinen und Forschungstraditionen. Ihre Aufgabe besteht darin, sie zusammen zu bringen und die dann erkennbaren Wechselwirkungen zwischen IT sowie sozialen und organisatorischen Praktiken transparent zu machen“ (S.140).

Auf diesen Modellüberlegungen aufbauend beschäftigt sich Rolf im dritten Teil des Buches mit der Frage der Rekultivierung der Folge- und Wechselwirkungen. Er stellt Bezüge zu übergreifenden Entwicklungen dar und beschäftigt sich mit Fragen des technischen Fortschritts und Innovationsspiralen, Automatisierung und Arbeitsmarkt sowie Aspekten der Nachhaltigkeit. Als Leser hätte ich mir in diesem dritten Teil vielleicht an manchen Stellen noch etwas mehr Breite und Ausführlichkeit gewünscht, verglichen mit den anderen Teilen des Buches.

MIKROPOLIS2010 richtet sich erklärtermaßen nicht nur an Informatikerinnen und Informatiker. Es hat den Anspruch, Orientierungswissen zu liefern. Gerade in der ausführlichen Diskussion historischer Beispiele gelingt dies durchaus sehr gut. Auch die systematische Vorstellung des zugrundeliegenden Betrachtungsansatzes (genannt MIKROPOLIS-Modell – stellenweise wird im Buch diese Bezeichnung vielleicht etwas zu aktiv „vermarktet“) ist klar strukturiert und liefert damit eine gute Basis, diese Systematik als analytische oder didaktische Perspektive auch auf andere Fragestellungen anzuwenden. Auch wenn er von seiner Herkunft aus im Kern vor allem Organisationen und ihre Prozesse im Blick hat, kann er doch auch auf anderen Feldern zum Einsatz kommen. Das Buch als Ganzes ist kein umfassendes Lehrbuch über Informatik und Gesellschaft, auch wenn viele alte und auch aktuelle Themen dieses Fachgebietes behandelt oder gestreift werden – es ist auch nicht als solches gedacht. Aber es liefert einen erfreulichen und wichtigen Beitrag in methodischer Hinsicht durch den Versuch einer systematisierenden und strukturierenden Betrachtungsweise, die durch die exemplarische Anwendung sehr verständlich und nachvollziehbar dargestellt wird. In diesem Sinne ist das Buch einer breiten Leserschaft mit Interesse an Fragestellungen und Entwicklungen im Bereich „Informatik und Gesellschaft“ auf jeden Fall zu empfehlen.