Kampagne "Reclaim your Data"
Das FIfF unterstützt die Kampagne "Reclaim your Data".
Nimm dir dein Recht im Europa der Polizeien, hol dir deine Daten zurück!
Kampagne zu Auskunftsersuchen in europäischen Datenbanken
Europaweit sind personenbezogene Daten von Millionen von Menschen in
Informationssystemen gespeichert, die von Polizei oder Geheimdiensten
betrieben oder selbstverständlich abgefragt werden. Ergänzt und
vernetzt werden die diversen nationalen Informationssysteme durch
zentralisierte Datenbanken, wie das Schengen-Informationssystem (SIS)
oder Europols Computersysteme, und die wachsende Automatisierung und
Beschleunigung des grenzüberschreitenden Datenaustausches im Gefolge
des Vertrages von Prüm und der „Schwedischen Initiative“.
Betroffen sind längst nicht nur Personen, die wegen einer Straftat
rechtskräftig verurteilt sind. Regelmäßig erfasst werden MigrantInnen –
sei es, weil sie das „Verbrechen“ begangen haben, sich ohne vorherige
Bewilligung im europäischen Wohlstandsraum aufzuhalten, weil sie vom
Asylrecht Gebrauch machen wollen oder auch nur, weil sie länger in
einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zu Gast sind. Aber auch
EU-BürgerInnen werden immer häufiger ohne strafrechtlichen Anlass, z.B.
allein wegen einer Kontrolle bei politischen Protesten oder aufgrund
eines polizeilichen Platzverweises, auf Vorrat gespeichert und somit
zum Sicherheitsrisiko erklärt.
Europäische InnenministerInnen fordern angesichts einer „immensen
Datenflut“ mehr Kompetenzen und die technischen Voraussetzungen zur
Nutzbarmachung dieses „Daten-Tsunami“ für die Polizeibehörden.
„Datamining“-Software soll die Auswertung der Datenbestände
vereinfachen und „Entscheidungshilfen“ geben. Personen-, Sach- und
Beziehungsdaten werden von Computern prozessiert, die „Risiken“
frühzeitig erkennen und etwaige Straftaten „vorhersehen“ sollen. Die
Software hierzu wird von der Sicherheitsindustrie entwickelt, ihr
Quellcode – und damit ihre Funktionsweise – bleibt geheim.
Die Schaffung eines grenzenlosen Informationsverbundes – der bis in die
USA reichen soll – sowie die Entwicklung von technischen Plattformen
für die Zusammenarbeit der Polizeibehörden in Echtzeit gehört zu den
obersten Prioritäten der europäischen InnenministerInnen. Mit dem
„Stockholm Programm“, das der Europäische Rat im Dezember verabschieden
will, sollen die Pläne offiziell zur Richtschnur für die
EU-Innenpolitik der kommenden fünf Jahre werden. KritikerInnen warnen
vor einer „Datenbank-Gesellschaft“.
Während der Binnenmarkt für den polizeilichen Datenaustausch immer
stärker Kontur gewinnt, entziehen sich die Erfassung, Verarbeitung und
Weitergabe der Daten in der Regel der Kenntnis und dem Einfluss der
Betroffenen. Datenschutz wird in der europäischen Polizeizusammenarbeit
klein geschrieben: Gemeinsame Standards bewegen sich auf minimalem
Niveau. Fragen der Verhältnismäßigkeit von Datenerfassung oder
Speicherfristen werden meistens ausklammert. Erlaubt ist im Prinzip,
was das jeweilige nationale Recht hergibt. Selbst dort, wo es
europäische „Kontrollinstanzen“ gibt, haben Innenministerien und
Polizeibehörden das letzte Wort. Internationaler Rechtsschutz muss von
Betroffenen im Ernstfall weit jenseits des Wohnortes erstritten werden.
Damit droht die Normalisierung der unkontrollierten Speicherung und
Anreicherung von Daten, die in einem Land erhoben wurden, durch die
Sicherheitsbehörden eines anderen Landes. Höhere Datenschutzstandards
bestimmter Länder können durch findige BeamtInnen über Länder mit
niedrigeren Anforderungen umgangen werden. Und es drohen die Anhäufung
einer größtmöglichen Menge von Daten in zentralen „Data Warehouses“,
deren Zweck einzig und allein ihre Durchforstung nach der Methode der
Rasterfahndung ist, sowie die Veralltäglichung standardisierter
Abgleiche großer Datenbestände.
Gesteigert wird dadurch nicht nur das Potenzial für den Missbrauch der
Daten. Vielmehr werden die Herkunft und Glaubwürdigkeit der Daten im
Alltag grenzüberschreitender Polizeikooperation auch für wohlmeinende
BeamtInnen noch weniger transparent sein, als sie es im nationalen
Kontext bereits heute sind. Die Konsequenzen falscher „Treffer“
polizeilicher Recherchen im europäischen Informationsverbund können
allerdings gravierend sein: verdeckte Überwachung zur Erstellung von
Bewegungsprofilen, vorläufige Festnahmen, Aus- und Einreiseverbote,
Abschiebung oder auch „nur“ lästige Hausbesuche und Vernehmungen durch
ErmittlerInnen – die Last, die eigene Unschuld zu beweisen, obliegt den
Betroffenen. Der Freispruch vom nagenden Verdacht, der persönliche
Freiheit und zwischenmenschliches Vertrauen unterminieren kann, muss
notfalls mühselig auf dem Rechtsweg erkämpft werden – falls die
persönliche Lebenssituation dies überhaupt zulässt. Und wir wissen ja:
selbst der „Kontakt“ zu Verdächtigten oder ein kleinster „Restverdacht“
rechtfertigen eine Speicherung.
Als Antwort auf diese bedrohliche Entwicklung rufen wir daher all jene,
die unsere Sorgen teilen, im Rahmen der Kampagne gegen das
„Stockholm-Programm“ dazu auf, nicht nur sich selbst und andere zu
informieren, sondern konkret in Aktion zu treten und von ihren Rechten
Gebrauch zu machen:
Nadelöhre des grenzüberschreitenden europäischen
Informationsaustausches sind (noch) die zentralen Polizeibehörden der
EU-Mitgliedsstaaten – in Deutschland das Bundeskriminalamt (BKA). Das
BKA ist nicht nur die nationale Kontaktstelle für das europäische
Polizeiamt Europol und seine Computersysteme, für das
Schengen-Informationssystem und für den Informationsaustausch im Rahmen
bi- und multilateraler Vereinbarungen; das BKA ist auch verpflichtet,
Auskunft über eventuell gespeicherte Daten zu geben.
Wer also wissen will, was die Polizei über sie oder ihn zu wissen
glaubt, und wer sie damit beschäftigt sehen möchte, Auskunft über die
Speicherungen ihrer bzw. seiner Daten in ihren Datenbanken zu geben,
dem empfehlen wir, sogenannte Auskunftsersuchen zu stellen. Die
Antworten werden Hinweise über das Ausmaß des polizeilichen Zugriffs
auf die Bevölkerung geben und können Ausgangspunkt für individuelle
Anträge auf Löschung und politischen Widerspruch sein.
Weitere Informationen und das Angebot einer automatisierten Erstellung entsprechender Anschreiben finden sich unter http://www.datenschmutz.de/cgi-bin/moin.cgi/AuskunftErsuchen.
Mehr zu den zukünftigen Plänen europäischer Innen- und Justizminister: http://stockholm.noblogs.org.
September 2009